10 Jahre Forschungen zur ostdeutschen Agrarentwicklung und zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 1945 bis 1989. Bilanz und Aussicht

10 Jahre Forschungen zur ostdeutschen Agrarentwicklung und zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 1945 bis 1989. Bilanz und Aussicht

Organisatoren
Institut für Zeitgeschichte (IfZ), Abteilung Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.03.2003 - 15.03.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Patrice G. Poutrus, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

[Dieser Tagungsbericht erscheint in einer leicht geänderten Fassung auch im nächsten Heft der Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie.]

Am 14. und 15. März 2003 versammelten sich in den Räumen der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte etwa drei Dutzend Historiker, deren Forschungsinteresse die „ländliche Gesellschaft in der SBZ/DDR“ bildet. Angekündigt war eine „forschungsinterne Bestandsaufnahme der deutschen historiografischen Leistungen zum Thema DDR-Agrargeschichte“. Die Organisatorin der Tagung, die langjährige und immer auch streitbare Mitarbeiterin des Instituts für Zeitgeschichte, Elke Scherstjanoi, wünschte sich in der vorab veröffentlichen Ausschreibung, dass Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Breite des historischen Faches und der angrenzenden Disziplinen dazu Beiträge lieferten. Das Vorhaben war insgesamt nicht wenig ambitioniert, denn angekündigt wurde, dass sich die Konferenz entlang einer möglichst großen Bandbreite von Forschungsansätzen und theoretischen Zugängen strukturieren sollte. Entsprechend der Ausschreibung reichten diese dann auch vom Paradigma der „Sowjetisierung“ über betriebs- und volkswirtschaftliche Betrachtungen in der Agrargeschichte bis zu politischen Institutionen auf dem Lande als Untersuchungsgegenstand – und darüber hinaus. Allerdings stand dieser eingeforderten großen methodischen und theoretischen Offenheit das vorab aufgestellte Urteil gegenüber, dass „die Agrargeschichte [...] seit langem ein Stiefkind der deutschen Historiografie“ sei. Beim Rezensenten mischte sich vorab das eigene Forschungsinteresse mit der Befürchtung, dass eventuell am Beispiel der DDR die Agrargeschichte aufgewertet oder gar anhand der Agrargeschichte die DDR rehabilitiert werden sollte. Um es gleich vorwegzunehmen: Diese – zugegeben überspitzt formulierte – Besorgnis wurde nicht bestätigt.

Schon die einleitenden Worte von Hermann Wentker, dem wissenschaftlichen Leiter der Berliner Außenstelle des IfZ, unterstrichen den Werkstattcharakter des Kolloquiums. Er betonte, wie wichtig eine Vielfalt der Zugänge zu den unterschiedlichen Entwicklungen, Konflikten und Arrangements in der DDR-Agrargeschichte sei. Der wissenschaftliche Austausch über Leistungen und Defizite diverser Forschungsansätze, die Präsentation neuer Projekte und die Erörterung von Forschungsperspektiven sollten deshalb im Zentrum der Betrachtungen stehen.

Dementsprechend bot bereits der erste Tag des Kolloquiums anregende Angebote. Ernst Langthaler vom Institut für die Geschichte des ländlichen Raums (St. Pölten, Österreich) stellte die Entwicklung alter und neuer wissenschaftlicher Diskussionen zur Agrarfrage vor, hauptsächlich in der angloamerikanischen Forschung. Zusammenfassend plädierte er dafür, die Beschränkung der „alten Agrarfrage“ auf Klassendifferenzen zu überwinden, indem Problemfelder wie Religion, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit in die Betrachtung der ländlichen Gesellschaft aufgenommen werden. Hier knüpfte Arnd Bauerkämpers (Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Berlin) Präsentation von politik-, sozial-, struktur-, kultur- und mikrogeschichtlichen Forschungsansätzen aus der Agrargeschichtsforschung zur DDR an. Er forderte, die engen Grenzen der DDR-Agrargeschichte durch die Aufnahme von Anregungen aus den Sozialwissenschaften zu überschreiten. Insbesondere wenn es um die Frage der historischen Einordnung der DDR-Agrargeschichte gehe, können nach Bauerkämper Schlüsselbegriffe wie Transformation und Pfadabhängigkeit weiterführen. Die Verbindung dieser beiden Konzepte erlaube eine den historischen Kontext berücksichtigende komparative Einordnung neuerer Ergebnisse aus dem Forschungsfeld Agrargeschichte der DDR.

Auch wenn die Forderung nach methodischen und theoretischen Öffnungen der Disziplin von den Teilnehmern insgesamt positiv aufgenommen wurde, zeigte sich schon im folgenden Teil der Tagung, dass dies nicht ohne Missverständnisse und Kontroversen vonstatten ging. Dagmar Langenhan (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam) stellte ihren Forschungsansatz „SED-Herrschaftsanspruch versus bäuerliche Selbstbehauptung“ als Weiterentwicklung des mikrohistorischen Eigen-Sinn-Konzeptes vor. Sie betonte, dass es ihr dabei um die Darstellung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Individuen, Gesellschaft und politischer Herrschaft gehe. Nach ihrer Auffassung hätten die staatlichen wie politischen Funktionsträger im ländlichen Raum in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle gespielt, da sie als „Grenzgänger“ zwischen der herrschenden Staatspartei und der Bauernschaft zu vermitteln suchten. Gegenüber dieser eher kleinteiligen Perspektive wurde es mit dem anschließenden Beitrag von Elke Scherstjanoi wieder sehr grundsätzlich. Die Referentin setzte sich mit dem Sowjetisierungs-Paradigma in der zeithistorischen DDR-Forschung insgesamt auseinander. Sie übte scharfe Kritik an – ihrer Meinung nach – oft leichtfertigen bzw. oberflächlichen Darstellungen einer Sowjetisierung der mittel- und osteuropäischen Gesellschaften während der Phase der kommunistischen Herrschaft in diesen Ländern. So sehr die Kritik an der normativen Aufladung des Begriffs „Sowjetisierung“ zutraf, so wenig konnte ihr alternatives Angebot, stattdessen allgemein von „Modernisierung“ zu sprechen, wirklich überzeugen. Das in der Sowjetisierungsdebatte bisher ungeklärt gebliebene Problem von Dominanz und Interdependenz im Verhältnis der sowjetischen Hegemonialmacht zu den übrigen Ostblock-Staaten würde so zwar in den Hintergrund der historischen Betrachtung gedrängt, bliebe aber dennoch weiterhin ungelöst.

Der zweite Tag des Kolloquiums wurde mit einem Referat von Jens Schöne (Stipendiat der Stiftung Aufarbeitung, Berlin) eröffnet, in dem er Forschungsstand und Forschungsfragen zu den Wirkungen politischer und staatlicher Institutionen auf dem Lande darstellte. Nach seinem Urteil wird die Forschung zur Agrargeschichte der DDR noch immer von der Frage dominiert, wie planvoll die SED ihre utopischen Gesellschaftsvorstellungen im primären Sektor durchsetzen konnte. Die Untersuchung der dafür notwendigen politischen Institutionen stehe allerdings erst am Anfang. Defizite bestünden u.a. in der Erforschung der Geschichte von Repressivorganen und wirtschaftsleitenden Einrichtungen des SED-Staates auf dem Lande, besonders für die Zeit nach dem Abschluss der Kollektivierung. Bemerkenswert an Schönes Vortrag war, dass trotz seiner demonstrativen Distanz zur Alltagsgeschichte die vorgestellten Überlegungen letztlich klar in jenen Nahbereich von Staat und Gesellschaft zielten, der zuvor schon von Dagmar Langenhan aus mikrohistorischer Perspektive thematisiert worden war. Daran schloss sich der Beitrag der namhaften DDR-Agrarhistorikerin Christel Nehrig (Berlin) zum deutsch-deutschen Vergleich an. Nehrig beklagte, dass vergleichende Untersuchungen zur deutschen Nachkriegsgeschichte häufig unter vorwissenschaftlichen Polemiken zu leiden hätten. Aus ihren weiteren Darlegungen wurde aber deutlich, dass dies nicht nur ein Problem des öffentlichen Umgangs mit wissenschaftlicher Arbeit ist, sondern auch durch methodische Schwächen in der Forschung selbst herbeigeführt werden kann. Die bloße Gegenüberstellung von möglichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden begrenzt den Erkenntniswert des historischen Vergleichs erheblich und lädt wiederum zu kritischen Rückfragen ein.

In den sich anschließenden Beiträgen wurde die ganze Gegenstandsvielfalt der DDR-Agrargeschichte demonstriert. Der DDR-Agrarrechtler Klaus Heuer (Berlin) übernahm den rechtshistorischen Beitrag des Kolloquiums, in dem er auf drei Forschungsfragen einging: die Durchsetzung der Genossenschaftsidee, die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden und das Agrarrecht der DDR im Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip. Friederike Sattler (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) betrachtete die agrarhistorische Forschung der letzten Jahre unter betriebswirtschaftlichem Blickwinkel. Elisabeth Meyer-Renschhausen (Freie Universität Berlin) trug mit ihrem agrarsoziologisch ausgerichteten Vortrag zu Kleinstwirtschaften und individueller Hauswirtschaft zur Bereicherung der debattierten agrarhistorischen Zugänge bei. Benoît Petit (Toulouse, Frankreich) ging auf die Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Bauer“ in der Agrargeschichte ein und beschrieb Verständnis- und Quellenprobleme während seiner Recherchen in ostdeutschen Archiven vor und nach der Wiedervereinigung. Der Geograph Andreas Dix (Universität Bonn) vermittelte einen Überblick über Forschungen zur ländlichen Siedlungsplanung und zum Siedlungsbau auf dem Lande. Er führte anschaulich vor, wie die noch immer unterschätzten Befunde seiner Disziplin das Bild vom Geschehen im DDR-Dorf nicht nur komplettieren, sondern korrigieren können.

In dieser Vielgestaltigkeit der Themen und Zugänge konnte Michael Schwartz (Abteilung des IfZ, Berlin) mit seinen vorgestellten dezidiert historischen Forschungen zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen als Beitrag zur ländlichen Geschichte in der DDR am meisten überzeugen. Trotz der starken Präsenz von Flüchtlingen und Vertriebenen – in der DDR offiziell „Umsiedler“ genannt – auf dem Land, kam deren soziale Existenz in der frühen DDR über eine formelle Gleichstellung mit den Einheimischen kaum hinaus. Offenkundig vermochte es der SED-Staat nicht, entscheidenden Einfluss auf traditionelle Vorstellungen von Zugehörigkeit und Fremdheit in diesem Sektor der DDR-Gesellschaft auszuüben. Um dem offenkundigen Scheitern der angestrebten Integrationspolitik zu entgehen, entschloss man sich schließlich, die daraus resultierenden Probleme kurzerhand für abgeschlossen zu erklären. Mit einer anregenden Kombination von politik- und migrationsgeschichtlichen Untersuchungsperspektiven konnte Schwarz ein Bild der ländlichen Gesellschaft in der SBZ und frühen DDR entwerfen, das diese nicht als homogenisiert und harmonisch, sondern als komplex und konfliktgeladen kennzeichnete. Abschließend stellte Herle Furbrich (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder) ihr Dissertationsprojekt zum Umgang mit Gutshäusern in ländlichen Siedlungen Ostdeutschlands vor.

Die interdisziplinäre Ausrichtung dieses Kolloquiums zur DDR-Agrargeschichte kann als herausragende Leistung angesehen werden. Es gab ausreichend Zeit zur Diskussion, die auch intensiv genutzt wurde. Allerdings waren die Diskussionsbeiträge nur selten aufeinander bezogen, sondern blieben weitgehend auf Kommentare bzw. Informationsfragen zu den jeweiligen Referaten beschränkt. So muss resümierend die Frage offen bleiben, ob die zeithistorischen Forschungen zur Agrargeschichte der DDR ihren momentanen Rang in der Fachöffentlichkeit zu Recht oder zu Unrecht einnehmen. Dennoch war diese Veranstaltung nicht nur als Bilanz verdienstvoll, sondern lieferte vielfältige Anregungen für die weitere Forschungsarbeit.


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